Bei Crtl-Verlust hat mspro einen interessanten Artikel über die Zukunft des Wahrheitsempfindens in Zeiten des Internets veröffentlicht.
Kurzzusammenfassung: Sammlungen wie Wikileaks helfen nicht wirklich weiter als die frühere, gefilterte Form der Veröffentlichung durch Journalisten, weil niemand die Zeit hat, die Fülle des Materials selbst zu sichten. Irgendeine Form von vorgefilterter Information wird also immer bleiben. Da der Print-Journalismus immer mehr an Bedeutung verliert, wird diese Aufgabe jetzt schon und stark vermehrt in Zukunft von Bloggern, Twitterern und sonstigen Privatleuten übernommen. Solche Informationen aus dem Netz sind aber viel stärker noch als der professionelle Journalismus an die Meinung des Autors gebunden, geben nicht selten Halbwahrheiten, bruchstückhafte Informationen, Verschwörungstheorien und auch schlicht die Unwahrheit wider. Da sich die Informationskonsumenten gerne solche Quellen suchen, die mit ihrer eigenen Meinung übereinstimmen, wird letztlich eine Welt entstehen, die keinen Konsens über die Wahrheit mehr kennt; je nach Quellenauswahl wird jeder etwas anderes für wahr halten. (Im Artikel steht noch mehr, aber das sind die Punkte, die ich kommentieren möchte.)
Das ist wirklich ein sehr ineterssanter Punkt. Zwar halte ich Komplettveröffentlichungen wie Wikileaks schon für sehr wichtig, weil sie nach Konsum von gefilterter Information die Quellenüberprüfung ermöglichen. Das war früher nicht möglich, man musste dem Journalisten einfach glauben.
Tatsächlich haben sich damit die Vorteile solcher Quellensammlungen auch schon weitgehend erschöpft. Ja, ich könnte mir das alles selbst ansehen, und es ist irgendwie schön zu wissen, dass das theoretisch möglich wäre. Werde ich es wirklich tun? Nein.
Wie vermutlich viele andere habe ich mal einen Blick auf einen der unzähligen Wikileaks-Mirror geworfen, die eine oder andere Depesche studiert, festgestellt, dass nichts Interessantes drinstand und dass ich nicht weiß, wie ich interessante Depeschen finden soll – und mich anderen Dingen zugewandt.
Also: Ja, ohne die Filterung durch Leute, die sich weitgehend durch das Material durchkämpfen, sind solche Veröffentlichungen wertlos. Journalismus, sei es durch Profis oder durch Privatleute, ist und bleibt notwendig.
Was mspro Filtersouveränität nennt, bezieht sich auf die Wahl der Quellen, die der Einzelne trifft. Es gibt einen ungeheuren Wust an Informationen, viel zu viel, um sie selbst zu verarbeiten. Statt dessen wählen wir die Filter, die die für uns wichtigen Informationen identifizieren und zur Verfügung stellen. Das sind natürlich nicht nur Journalisten bzw. ganze Publikationen und Blogs, sondern auch Suchmaschinen, Foren, Freunde und Bekannte außerhalb des Netzes usw. Souveränität drückt dabei aus, dass es statt einiger weniger Meinungsmacher inzwischen eine Fülle von Quellen gibt, die angezapft werden können, und es werden immer mehr – jeder kann und muss sich die eigenen auswählen. (mspros Begriff der Filtersouveränität hat noch mehr Aspekte, es würde aber zu weit führen, die hier alle anzusprechen.)
Je mehr die Bedeutung des professionellen Journalismus als Meinungsmacher abnimmt, desto mehr wird sich der Anteil von „Untergundmeinungen“ im persönlichen Weltbild erhöhen. Dabei ist unerheblich, was davon tatsächlich wahr ist, denn in vielen Fällen ist das für den Einzelnen ohnehin nicht nachprüfbar, ganz abgesehen von der fehlenden Motivation der meisten Medienkonsumenten, das überhaupt zu versuchen.
Natürlich sind auch die großen Medien nicht frei von verzerrten, unvollständigen oder falschen Informationen, im Gegenteil. Das blendet man im allgemeinen aber aus, vor allem bei den „seriösen“ Quellen, was es sehr erleichtert, sich selbst ein kohärentes Weltbild zu schaffen.
Untergundmeinungen mögen teilweise die „tatsächliche Wahrheit“ besser widerspiegeln als der Tenor der Mainstream-Medien. Und selbstverständlich recherchiert mancher Blogger besser als zeitnotgeplagte Profi-Journalisten. Trotzdem dürfte es eher die Mehrzahl als die Minderheit der Untergrund-Quellen sein, die massiv meinungsgefärbte Artikel in die Welt setzt.
Echte Nachrichtenportale, die etwa Agenturmeldungen verbreiten, sind im allgemeinen organisiert wie die traditionellen Medien, gehören wirtschaftlich direkt zu ihnen oder aggregieren nur deren Meldungen. Blogs dagegen bestehen zu fast 100% aus Kommentaren, nicht aus Reportagen oder reinen Nachrichten. Sie stellen eine Ergänzung dar – die eigentlichen Nachrichtenquellen ersetzen können sie in den wenigsten Fällen.
Wird es also überhaupt zu einem Auseinandergehen des persönlichen Wahrheitsempfindens kommen, wie mspro es postuliert, wird jeder etwas anderes für wahr halten? Werden reine Nachrichtenportale als Nachfolger der Printmedien in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wird jeder nur noch Kommentare und Meinungen konsumieren statt der „reinen“ Nachrichten?
Das glaube ich nicht. Jedenfalls nicht in der Überzeichnung, wie ich es eben dargestellt habe.
Tatsächlich ist es aber relativ wahrscheinlich, dass das bis zu einem gewissen Grad passiert, jedenfalls, wenn der Niedergang des klassischen Journalimus nicht irgendwann durch einen Backlash gestoppt wird.
Mit der nachlassenden Qualität des Print-Journalismus schwindet auch das Vertrauen in ihn. Echte Nachrichtenportale wird es immer geben (was mspro ja auch nicht bestritten hat, um das hier einmal anzumerken), und ähnlich wie heute Fernsehen und Printmedien werden sie in Zukunft für die Ausgestaltung des Mainstream-Weltbildes zuständig sein.
Nicht unwahrscheinlich ist allerdings, dass das Vertrauen in diese Institutionen immer mehr schwindet, und damit ihre Bedeutung bei der Meinungsbildung. Man wird sie weiterhin konsumieren, die Inhalte aber möglicherweise kritischer betrachten und grundsätzlich mit Ansichten aus dem Bereich der Untergundmeinung vergleichen.
Dadurch würde immer unklarer, was denn nun eigentlich „wahr“ ist; eine weitere Verunsicherung der Menschen wäre die Folge.
Keine schönen Aussichten? mspro glaubt, dass sich das nicht mehr verhindern lässt. Und er könnte recht haben.
Mittwoch, 15. Dezember 2010
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