Dienstag, 8. Dezember 2009

Christoph Marzi

Heute einmal die Besprechung eines Buches, das ich gerade gelesen habe. Oder eigentlich fast mehr die Besprechung eines Autors:
Es handelt sich um Christoph Marzi und sein neues Buch Lyra.
Danny Darcy, der schon in „Fabula“ aufgetaucht war, hat mit einer Lüge zu kämpfen, die seine Mutter seiner Frau eingepflanzt hat: Sie glaubt, Danny mit eigenen Augen mit einer anderen Frau gesehen zu haben. Dannys Mutter Helen nämlich ist eine „Sherazade“ (also ganz absichtlich keine Sheherazade), die in der Lage ist, Geschichten zu erzählen, die für die Zuhörer Wahrheit werden. So bricht Danny mit seiner Frau zu den Sirenen auf, die heute in den Sümpfen Floridas leben, weil sie als Vorfahren der Sherazaden die einzigen sind, die in diesem Fall helfen können.
Klingt vermutlich etwas platt, nicht wahr?
Ist es aber überhaupt nicht. Christoph Marzi ist ein unglaublicher Erzähler, der in der gesamten Fantasy-Literatur seinesgleichen sucht. Das ist natürlich der Punkt, an dem zwingend der allgegenwärtige Tolkien-Vergleich kommen muss, und ich sage: Marzi ist besser als Tolkien. Viel besser.
Tolkien hat es zwar verstanden, ungeheuer faszinierende Welten zu erschaffen, mit einer Fantasie, die bis heute Basis vieler Fantasy-Romane ist. Trotz seiner hohen und ausgefeilten Sprache hat er aber eines mit den meisten anderen Fantasy-Autoren gemeinsam: Seine Bücher sind furchtbar trivial.
Bis auf wenige Ausnahmen sind die Rollen zwischen Gut und Böse klar verteilt, die guten sind Helden, die Bösen machen Fehler und/oder stolpern über ihre eigene Boshaftigkeit, und am Ende geht alles gut aus.
Marzi ist da wesentlich vielschichtiger. Zwar sind die Hauptpersonen meist ähnlich auf „gut und irgendwie Underdog-heldenhaft“ gestrickt wie bei Tolkien, richtig böse Figuren gibt es aber meist nicht. Selbst Figuren, die zunächst als die abgrundtief bösen Gegenspieler der Helden aufgebaut werden, entpuppen sich letztlich oft als Getriebene, deren Handeln zwar nicht schön, aber irgendwo verständlich ist – oder sogar alternativlos.
Vor allem in der Lycidas-Trilogie (Lycidas, Lilith, Lumen) hat Marzi meisterhaft solche Charaktere geschaffen.
Eine ganz besondere Faszination geht für mich aber von einem anderen Aspekt aus: Christoph Marzi kann Geschichten miteinander verweben wie kein anderer, und er scheint über einen nahezu enzyklopädischen Schatz davon zu verfügen.
Die Anspielungen auf und Einbeziehungen von Sagen, Romanen (teils treten sogar deren Figuren auf), Songtexten und historischen Begebenheiten sind in ihrer Anzahl fast schon grotesk. All das wird zu einer ganz neuen Geschichte verwoben, die aber immer völlig anders ist als zu erwarten gewesen wäre.
Die alten Geschichten erzählen bei Marzi nie die ganze Wahrheit, sondern nur einen Ausschnitt, und Marzi selbst liefert die „fehlende Information“, die den Blickwinkel vollkommen verändert und die Geschichten in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt.
Zudem verbindet er sie so miteinander, dass alles perfekt ineinanderpasst, und das ohne dass mir je ein Fehler oder eine Veränderung an den Originalgeschichten aufgefallen wäre. Das macht Marzi so gut, dass ich mir fast sicher bin, dass es irgendwo im Internet schon Leute gibt, die darüber beraten, wieviel Wahrheit in seinen Büchern steckt und woher er das wohl weiß. :-)
Besonderen Spaß machen Christoph Marzis Bücher deshalb, wenn man sich gut in Mythologie und Esoterik auskennt, große Mengen besserer Literatur gelesen hat und die Texte von guten Songwritern (z.B. Dylan oder Cohen) kennt. Letzteres fehlt bei mir ziemlich, in den ersten beiden Kategorien kenne ich mich aber recht gut aus – und habe trotzdem den Eindruck, dass unzählige Anspielungen und Hommagen an mir vorbeigehen.
Die Neuinterpretation der alten Geschichten sind ungeheuer faszinierend. Ich kann das Genie, mit dem Marzi hier aus verschiedensten Puzzlestücken schlüssige Gesamtbilder erstellt, nur bewundern.
Gleichzeitig wohnt seinen Büchern eine etwas düstere Romantik inne, die mir ebenfalls sehr nahe liegt. Geschichten und ihr Wahrheitsgehalt haben immer einen großen Stellenwert und werden geradezu verehrt. Dazu kommt eine Welt, die nicht direkt böse ist, aber sicher indifferent, von der „die Guten“ letztlich nicht mehr zu erwarten haben als „die Bösen“.
Alles in allem kann ich diesen Autor nur wärmstens empfehlen. Er gehört mit Sicherheit zum Besten, was die Fantasy-Literatur (und nicht nur die deutsche) zu bieten hat, für mich ist er sogar der beste Autor seines Genres.
Als Leseempfehlung:
Um das Thema Geschichten erzählen, Macht der Geschichten und Musik drehen sich die Bücher Fabula und das neue Lyra (in dieser Reihenfolge, auch wenn die beiden Romane auch einzeln Sinn ergeben).
Mehr ins Mythologische (und für mich damit auch ins Faszinierendere) geht die Trilogie Lycidas, Lilith und Lumen mit dem zusätzlichen Band Somnia, der in der gleichen Welt, aber mit anderen Protagonisten spielt.

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